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Full text of "Rede bei der Bismarck-Feier in Muelhausen i. E"

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MÜLHAUSEN i. E. 

am 1. Api^iL 1895 

gelialton von 

W. DEECKE, Dr., 


(lyiniiasialdii'ektor. 




IVIULHAUSEN i. E. 

DRUCK UND VERLAG VON WENZ & RETERS 

-o 1895 o- 



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REDE 


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MÜLHAUSEN 1. E. 

am 1. April 1895 

gehalten von 


W. DEECKE, Dr., 

Gymnasialdirektor. 

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MÜLHAUSEN i. E. 

BUCHDRUCKEREI WENZ & PETERS. 
— o 1895 o- 


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Ca— ö'''\J^-j ) 



5G 


Deutsche Mitbürger! 


Ein gewaltiger Manu ist es, dessen 80. Geburtstag zu feiern 
wir hier heute versanamelt sind: Otto von Bismarck — geivaltig 
schon in seiner äusseren Erscheinung ! Wer das Glück gehabt 
hat, ihm in der Zeit seiner höchsten Kraft gegenüberzustehn, 
wird den Anblick nie vergessen: die hohe Keckengestalt , die 
energische Haltung, das mächtige Haupt, die buschigen Brauen, 
die blitzenden Augen, den sprechenden Mund, der, wenn er zu 
gewaltiger Rede sich löste, die Welt zum Hören zwang. — 
Denn geivaltig ist auch des Riesen Geist und Wort. Vom ein- 
fachen märkischen Grundbesitzer und Deichhauptmann hat er- 
sieh zum Fürsten Reichskanzler, Herzog von Lauenburg, und 
zum ersten Staatsmanne der Gegemvart emporgeschwungen. 
Wenn er einst sagte, die Kunst der Diplomaten bestehe darin, 
zu wissen, was die leitenden Männer der Zeit unter den gege- 
benen Umständen thun werden : wer hat tiefer als er die 
Charaktere durchschaut, die Folgen erwogen, den Ausgang be- 
rechnet? Die drei grossen Kriege, die er eingeleitet hat, der 
schleswig-holsteinische , der österreichische , der französische, 
waren diplomatisch, d. h. halb gewonnen, ehe noch ein Schuss 
gefallen war. Zweimal, auf dem Berliner Kongress nach dem 


Frieden von St. Stefano und in der Kongokonferenz, stand er 
au der Spitze des Rates der gesamten europäischen Diplomatie 
und lenkte als «ehrlicher Makler», wie er bescheiden sich selbst 
nannte , in Wahrheit als Schiedsrichter ihre welthistorischen 
Entscheidungen. Und wenn er, wie jedesmal vor einer grossen 
Aktion, sich in die Einsamkeit von Varzin oder Friedrichsruhe 
zurückzog, um sich in das Studium irgend einer wichtigen 
Frage , und mochte sie die für ihn feruliegendste sein , wie 
Heerwesen und Marine, Industrie und Handel, Zoll und Finanzen, 
zu vertiefen, und er trat dann mit dem vollendeten Plane im 
Abgeordneteuhause oder im Reichstage hervor, wer war ihm 
gewachsen? Nicht die gewiegtesten Kenner an Grossartigkeit 
der Anschauung, an Durchdringung des Kernpunktes der Sache, 
an voller Beherrschung des reichen Stolfes ; nicht die mächtig- 
sten Redner an Wucht der Beweisführung , an fortreissender 
Gewalt der Ueberzeugung. — Denn gewaltig zeigte sich auch 
stets sein Wille. Was er als notwendig, als recht, als heilsam 
erkannt hatte , das führte er rücksichtslos , jedes innere oder 
äussere Hindernis niederwerfend, durch. Seit er einmal aus 
der Engherzigkeit des altpreussischen Junkertums, in, dem er 
nufgewachsen war , sich zur deutschen Einheitsidee durchge- 
rungen und erkannt hatte, nur Kleindeutschland, wie man es 
damals nannte, ohne Oesterreich, könne geeinigt werden, und 
nicht durch Schützen-, Turn- und Gesangfeste, sondern nur 
durch Blut und Eisen sei eine Einigung möglich , und nur 
unter einem freiheitlichen hohenzollernschen Kaisertume könne 
sie vollendet werden : wie entschlossen, mit heroischer Selbst- 
überwindung, brachte er seine eigene konservative Vergangen- 
heit zum Opfer, wie offen und kühn verkündete er den unab- 
wendbaren Krieg, wie fest vollzog er den schweren Schnitt, der 
uns von unsern deutschen Brüdern in Oesterreich trennen musste, 
einen Schnitt, der damals unser aller Herzen im tiefsten Innern 
erzittern machte und selbst dem greisen Könige Wilhelm Thrä- 
nen des Schmerzes ins Auge lockte. Und wieder, welche Kraft 


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der Mässigung im Siege über den blutsverwandten Gegner ! 
wie er die Sachsen und Süddeutschen mit freundlicher Milde 
schonte , wie er das eben niedergeworfene Oesterreich sofort 
wieder zu unlöslichem Bruderbünde an uns kettete und in seiner 
hohen Kulturmission im Osten thatkräftig und uneigennützig 
unterstützte! Und wieder, als ihm der grössere Kampf gegen 
den auswärtigen Feind gelungen war, welche Energie, wie er 
dem Willen und Wunsche von fast ganz Europa die Stirne bot, 
indem er das urdeutsche Eisass, und, nach dem militärischen 
Rate Moltkes , auch Metz vom Leibe des Gegners losriss und 
uns durch die so im Reichslaude gewonnene beherrschende 
strategische Stellung 24 Jahre den Frieden bewahrt hat! 

Was aber an dem gewaltigen Manne das Allergewaltigste ist, 
das ist sein deutsches Qemüt , die einzigartige Vereinigung 
deutscher Charakterzüge, die ihn, trotz aller Feinde, zum Lieb- 
ling des deutschen Volkes gemacht hat. Deutsch ist seine 
schlichte Frömmigkeit und sein ruhiges Gottvertrauen; deutsch 
sein glückliches Familienleben und seine, in den letzten Jahren 
von so viel Tausenden aufgesuchte, herzgewinnende Gastlichkeit ; 
deutsch seine festhaltende Freundesliebe ; deutsch seine Königs-, 
deutsch seine Kaisertreue. Blank ist sein Ehrenschild in jeder 
sittlichen Beziehung: die Verleumdungen der Ehrsucht, der 
Habgier, der grausamen Härte, und was sonst Hass und Neid 
auf ihn geschleudert haben, sind längst vor der Wucht der 
Thatsachen ohnmächtig zu Boden gefallen. Der innerste Kern 
aber wieder jenes deutschen Gemüts ist seine deutsche Vater- 
landsliebe, die begeistert hingebende Liebe zum deutschen Volke, 
zum deutschen Wesen , zum deutschen Geiste , zur deutschen 
Sitte, zur deutschen Sprache. Diese Liebe durchloderte wie ein 
verzehrendes Feuer schon des jungen Mannes Brust, als er 
damals das herrliche Land und das edle Volk in schmach- 
voller Erniedrigung sah, als er, wie wir alle, hören musste, 
Deutschland sei nur ein «geographischer Begriff», die Deutschen 
ein Volk von «Träumern und Idealisten», zum Schicksal Polens 


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bestimmt, von den praktischeren Nachbarn zerrissen zu werden. 
Wie er dann als Bevollmächtigter den Jammer des deutschen 
Bundestages mit eigenen Augen schaute, wie er als Gesandter 
an den grossen Höfen Europas die Geringschätzung des Vater- 
landes und des eigenen Volkes bitter schmerzlich erfahren 
musste: da Hess es ihm, wie er sagt. Tag und Nacht keine 
Ruhe, da wurmte und quälte es ihn, da sann und sorgte er, 
und rüstete und bereitete sich, und sammelte in tiefster Brust 
iQWQW gewaltigen nrdeutschen Trotz, der einst zum Staunen und 
Schrecken der Welt hervorbrechen sollte. Und als für den ge- 
duldig Harrenden endlich die Zeit der That kam , da hat es 
ihm der Wille der Vorsehung wahrlich nicht leicht gemacht. 
Aus der Sommerfrische im südlichen Frankreich als Minister- 
präsident 1862 nach Berlin berufen, traf er den Kampf um die 
Hoeresorganisation bereits heftig tobend entbrannt. Einen von 
Frauenhand in x\vignon gepflückten Olivenzweig brachte er mit 
als Sinnbild der Versöhnung, die er zwischen König und Volk 
stiften wollte. Aber als der Konflikt nur um so heftiger ent- 
brannte, da trat er mit ganzer Kraft auf die Seite der Krone: 
Verkennung, Verblendung, Volkshass steigerten sich damals zu 
•einer jetzt kaum mehr geahnten Höhe, bis 1866, gerade im 
kritischesten Augenblicke, ein irregeleiteter Jüngling die Mord- 
waffe gegen ihn erhob. Wahrlich, nur eine gewaltige Natur, 
wie die seinige, konnte auch dies überwinden und das grosse 
Geheimnis seines Wollens unerschüttert in tiefster Brust be- 
wahren. Nur im Fluge kann ich diese Zeit berühren: wie schon 
nach dem schleswig-holsteinischen Kriege manche seiner leiden- 
schaftlichsten Gegner stutzig wurden , da er allein praktische 
Vorschläge machte, er allein thatsächliche Erfolge errang ; wie, 
als er nach dem österreichischen Kriege mit dem Indemnitäts- 
gesuche kam, ihm die budgetlose Regierung zu verzeihen, nur 
noch eine kleine Schar erbitterter Parlamentarier sie ihm ver- 
weigerte , und wie auch diese Schar noch zusammenschmolz, 
als das in vorausschauender Weisheit schon 1866 mit den 


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süddeutsclieu Staaten geschlossene Schutz- und Trutzbündnis 
bekannt wurde. Bismarcks Werk war es vor allen, dass das 
deutsche Nationalgefühl bereits so erstarkt war, dass im Som- 
mer 1870 die unehrerbietige Behandlung des Königs von Preussen 
und Präsidenten des Norddeutschen Bundes durch den franzö- 
sischen Gesandten in Ems als eine Schmach für ganz Deutsch- 
land empfunden wurde , die den altgermanischen Zorn überall 
auflodern Hess; Bismarcks Werk, dass beim Beginne des Krie- 
ges durch die Veröffentlichung der Napoleonischen Attentate 
auf das neutrale Belgien die öffentliche Meinung Europas mit 
einem Kuck zu Gunsten Deutschlands umschlug. Daun übergab 
er das von ihm und dem Grafen Roon geschliffene Schwmrt 
seinem grossen Mitarbeiter Moltke. Wer, der ihn raiterlebt hat, 
vergisst den Jubel über die ersten Siege bei Weissenburg, bei 
Wörth, bei Spicheren? Wer die durch tiefe Wehmut über die 
schmerzlich grossen Verluste gedämpfte Freude über die drei 
grossen Metzer Schlachten , in deren jeder der Feind auf die 
zu rettungsloser Umschliessung verurteilte Riesenfestung zurück- 
geworfen wurde? Wer das betäubte Staunen und daun den 
grenzenlosen Ausbruch jauchzender Begeisterung über die Tage 
von Sedan ! — 

«Nun lasst die Glocken von Turm zu Turm 
Durchs Land frolilockeu im Jubelsturm. 

Des Flammenstosses Geleucht facht an. 

Der Herr hat Grosses an uns gethan ! 

Ehre sei Gott in der Höhe!'» — 

«Und der Kaiser, der Kaiser gefangen 1» 

Auch mit diesen Tagen wird Bismarcks Name unvergess- 
lich in den Jahrbüchern der Geschichte verknüpft bleiben : wie 
er dem Kaiser, der schon seinen Degen übersendet hatte, ent- 
gegenritt und in dem einsamen Weberhäuschen vor Douchery 
die letzte entscheidende Unterredung mit ihm hatte , infolge 
deren der Kriegsgefangene nach Wilhelmshöhe abgeführt wurde. 
Und bald darauf Strassburg wieder unser, die ruhmvolle alte 


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deutsche Reichsstadt mit der himmelanstrebenden Leuchte ihres 
unvergleichlichen Münsterturms ! Dann der Fall von Metz, 
Siege über Siege in Eis und Schnee, der Heldenkampf an der 
Lizaine, das letzte Heer des Feindes über die Schweizer Grenze 
gedrängt, endlich, nach langem schwerem Ringen, der Riesen- 
sturz der genussreichsten Stadt der Erde , aber auch der ge- 
waltigsten Zwingburg der Welt, Paris! Und schon vorher jener 
ewig denkwürdige Tag , als am 18. Januar 1871 im Spiegel- 
saale des Schlosses zu Versailles, mitten im feindlichen Lande, 
im Centrum des einstigen französischen Königsprunkes , das 
neue deutsche Kaiserhim \er\amdet ward, die herbeigeeilten 
deutschen Fürsten und Vertreter der freien Städte dem neuen 
Kaiser Wilhelm dem Ersten huldigten : dieser welthistorische 
Akt wieder Bismarcks eigenstes Werk, der, wie wir jetzt wissen, 
noch die letzten Schwierigkeiten durch persönliches Einsetzen 
hinwegräumen musste. Es war der Höhepunkt seines Lebens, 
die Belohnung für so viele Arbeiten und Mühen, Sorgen und 
Leiden, durch die selbst seine Riesennatur fast gebrochen wor- 
den war. Es folgten der glorreiche Friede, die Einzüge der 
Truppen in die Heimat, der erste deutsche Reichstag, die 
Sturmflut der ersten einheitlichen Gesetze. Ein Rausch der 
Begeisterung hatte uns alle ergriffen, in dem erhebenden Ge- 
fühle, jetzt wieder q\\\ einiges deutsches Vaterland zu haben, alle 
Brüder eines Reiches zu sein, in grenzenloser Verehrung und 
Liebe aufschauend zu einem unvergleichlichen Kaiser , voll 
Heldenkraft und Milde, voll Weisheit und Güte! Und das Be- 
wusstsein, Thaten vollbracht zu haben, wie die Weltgeschichte 
sie nicht gesehn! Das deutsche Volk kein Volk der «Träumer», 
nein der Helden! Deutschland die erste Kriegsmacht der Welt, 
Schiedsrichter in Europa; seine Freundschaft, sein Bündnis um- 
worben und umschmeichelt von lauen Freunden und heimlichen 
Feinden! Wir Alten werden jene grosse Zeit, die herrlichste 
unseres Lebens, nie vergessen, aber auch nie den, der vor allen 
sie uns hei'aufgeführt hat , Otto von Bismarck. Die Jugend 


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aber möge sich an ihr erbauen, an ihr stärken, ihr ruhmvoll 
nacheifern , wenn auch für sie einst die schwere Stunde der 
Prüfung , die kaum einer Generation erspart wird , kommen 
sollte. 

Glänzend hatte der grosse Kanzler sein Wort gelöst: er 
hatte Deutschland «in den Sattel gehoben» : jetzt sollte es «selbst 
reiten » . 

Aber sein Feuergeist konnte nicht ruhn! Kaum war der 
grosse äussere Krieg siegreich beendet, so schuf er sich einen 
verhängnisvolleren inneren Kampf. Durch das deutsche Volk 
geht seit der Zeit der Reformation, wie durch kein anderes, 
der tiefe konfessionelle Spalt, der es in zwei fast gleiche Hälf- 
ten zerreisst. Da winkte 1871 die Hoffnung, diesen Spalt, wenn 
nicht schliessen , doch verschmälern zu können. Die beiden 
letzten Konzile hatten den Altkatholizismus ins Leben gerufen, 
der im Anfang eine jetzt kaum mehr geahnte grossartige Ent- 
wicklung zu nehmen schien. Gelang es , ihn in Deutschland 
zur Herrschaft zu bringen , eine altkatholische get^manische 
Staatskirche zu gründen, ähnlich wie die anglikanische, wie 
eine Zeitlang die gallikanische, so war zu erwarten, dass diese 
sich dem Protestantismus weit freundlicher gegeuüberstellen 
werde, als die römisch-ultramontane, dass vielleicht einst eine 
Union zwischen ihr und den Evangelischen in Aussicht stände, 
wie sie im Anfang dieses Jahrhunderts zwischen den einst auch 
so bitter verfeindeten Lutheranern und Reformierten geschlossen 
worden war. So wäre zugleich jener romanische Geist von jen- 
seit der Berge, der durch das Papsttum so oft verhängnisvoll 
in die Geschichte Deutschlands eiugegriflen hat , für immer 
ferngehalten worden. Dies war der innerste Ke?'n des soge- 
nannten Kulturkampfes : der grosse patriotische Gedanke einer 
Annäherung der Konfessionen. Aber der gewaltige Kanzler 
kämpfte vergebens: er hatte, was ihm als Protestanten viel- 
leicht zu verzeihen ist, die tief innerliche Glaubensfestigkeit, 
•die gehorsame Selbstüberwindung auch der eigenen Ueberzeugung, 


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den willig duldenden Opfermut unserer katholischen Brüder 
ebenso unterschätzt, wie die durch fast 2000jährige Herrschaft 
über die Gemüter erstarkte Macht der römischen Kirche. Wohl 
kämpfte er auch hier wieder mit ganzer Kraft, bis zur Gefahr 
des eigenen Lebens ; sobald er aber, beim raschen Verfall des 
Alt- und Staatskatholizismus, die Hoffnungslosigkeit des Unter- 
nehmens erkannte, und dass der Schade schliesslich für das 
deutsche Volk grösser werden würde, als der Gewinn: da be- 
zwang er mit riesenhafter Anstrengung sich selbst, Hess den 
Minister Falk , seinen treuen Mitkämpfer , und die Maigesetze 
fallen , und schloss rasch und ehrlich Frieden mit dem ehr- 
würdigen Haupte der römischen Kirche , das der Grösse des 
Gegners, was jetzt so oft vergessen wird , damals die höchste 
Anerkennung zuteil werden liess. Und wenn in kleineren 
Geistern die Erregung jenes Kampfes noch jetzt nachzittert, 
und der langjährig aufgespeicherte Groll die Stimme der Dank- 
barkeit übertäubt — urteilen wir nicht zu hart, und ja nicht 
allgemein ! Millionen Katholiken feiern begeistert den heutigen 
Festtag mit, dem Schöpfer der politischen Einheit des Vater- 
landes von ganzer Seele dankend. Und da der Wille des All- 
mächtigen den konfessionellen Zwiespalt unter uns hat bestehen 
lassen, so hat er uns damit zugleich die Aufgabe gestellt, durch 
eigene innere Kraft, in gegenseitiger Duldung, Schonung, Ach- 
tung, in echt christlicher Liebe uns über den Spalt hinweg die 
Bruderhand zu reichen, als Bürger eines Reiches , als Brüder 
eines Volkes! 

Noch stand der Kulturkampf auf seiner Höhe , da sprang 
ein anderer, lange vorbereiteter, patriotischer Plan überraschend 
aus dem Haupte des grossen Kanzlers ans Licht hervor. Es 
war der Gedanke, das neue Deutsche Reich zum grössten In- 
dustrie- und Handelsstaate der Welt zu erheben, zum Mittel- 
punkte des Weltverkehrs und Weltgeldmarktes. Dieser Plan hatte 
ihm schon vorgeschwebt bei der Forderung der französischen 
Milliarden , die ihren befruchtenden Regen vor allem auf die 


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deutsche Industrie ausströmeu sollten; bei der genialen Ein- 
fügung der Meistbegünstigungsklausel in den Frankfurter Frie- 
densvertrag , die Deutschland für ewig alle Handelsvorteile 
sicherte^ die Frankreich irgend einem andern Staate zugestehn 
würde, eine Klausel, die unser Nachbarland 20 Jahre als eine 
schmerzlich drückende Fessel empfunden hat. Es folgte die 
Einführung der Goldwährung, die Verstaatlichung der Eisen- 
bahnen, des Telegraphen- und Telephonwesens, endlich der von 
Deutschland ausgegangene, durch unsern grossen Stephan ent- 
worfene Weltpostverein und Weltpostvertrag. Und als 1878 die 
riesenhaft entwickelte deutsche Industrie unter dem Gehnlassen 
des sogenannten Manchestertums und dem übertriebenen Frei- 
handelssystem schwer zu leiden begann , da trennte sich der 
Kanzler, nach hartem innerem Kampfe, von seinem langjähri- 
gen Freunde und Ratgeber Delbrück, und da er kein anderes 
geeignetes Werkzeug fand, nahm er den TJynsclnuung der Wirt- 
schaf ts])olitik zu einem gemässigten Schutzzoll selbst in die 
Hand und führte ihn mit gewohnter Kraft selbst siegreich durch. 
Dazu gehörte der Eintritt der Hansestädte in den Zollverein, 
mit Bewahrung ihrer Freihafenstellung, und die grossartige 
Ausbildung des Konsulatswesens in den fremden Weltteilen. So 
ist Deutschland in der That in 20 Jahren der ziveitgrösste 
Handels- und Industriestaat der Welt geworden, ja hat auf der 
W^eltausstellung in Chicago sich in manchen Dingen selbst Eng- 
land überlegen gezeigt: erst in den letzten Jahren ist es von 
Frankreich wieder überholt worden. Das Nationalvermögen ist 
riesenhaft gewachsen, die Lebensführung eine weit höhere ge- 
worden , und ohne zu grosse Belastung haben wir die Mittel 
zu einer Heeresorganisation gefunden, die uns befähigt, wie der 
Kanzler es in seiner letzten grossen Reichstagsrede 1888 ver- 
langte, im Falle eines grossen Krieges eine Million Krieger in 
den Westen , eine Million in den Osten zu werfen , während 
zwei Millionen im Innern als Reserve zur Verfügung bleiben. 

Und mitten in diesen Umschwung hinein fiel 1883 ein neuer 


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Entwurf, der, wenn auch noch unvollendet, ein Riesentorso ist,, 
um den uns die Nachbarn beneiden: die soziale Oesetzgehimg 
wieder, nach einem Winke Kaiser Wilhelms des Ersten, Bis- 
marcks eigenstes Werk, mit Hülfe seines ihm vor wenigen Jah- 
ren entrissenen Freundes Lothar Biicher ausgeführt. Es galt, 
die durch Aufhebung aller mittelalterlichen Zwangs- und Schutz- 
vorschriften und durch die plötzliche grossartige Entfaltung des 
Kapital- und Maschinenwesens herbeigeführte Notlage der un- 
teren Stände zu heben; es galt, den verderblich angewachseneu 
Gegensatz zwischen Reich und Arm zu mildern ; es galt end- 
lich, jedem Deutschen ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen. 
Zugleich sollten dadurch der aus jenen Zuständen entsprungenen 
Sozialdemokratie die Wurzeln abgegraben und ihre zum Anar- 
chismus und zu fluchwürdigen Mordversuchen gediehenen Aus- 
wüchse durch ein vorübergehendes scharfes Gesetz ausgeschnitten 
werden. Nur ein Teil des grossen Entwurfes hat ausgeführt 
werden können, und dieser Teil, gegen Bismarcks Willen, noch 
vielfach verkürzt. Unfall-, Kranken-, Alters- und Invaliden- 
versorgung sind vollendet; Witwen- und Waisenversorgung fehlt 
noch. Frauen- und Kinderarbeit ist unter Aufsicht gestellt und 
beschränkt; die Sonntagsruhe meist durchgeführt; vielfach Ar- 
beiterausschüsse und Gewerbekammern gebildet; Fabrikinspek- 
tionen eingerichtet, deren Einfluss und Segen jährlich wächst. 
Viel ist noch zurück — was aber geschehen ist, hat das Stau- 
nen, die Bewunderung, die Nachahmung unserer Nachbarn her- 
vorgerufen. Mehr als eine Milliarde ist bereits von den wohl- 
habenden Klassen für obige Stiftungen geopfert worden , und 
auf mehr als 20 Millionen Deutsche werden sich in wenigen 
Jahren ihre Segnungen erstrecken. Nicht wenige auswärtige 
Stimmen haben gerade in dieser sozialen Gesetzgebung Bis- 
marcks grösstes Werk anerkannt. 

Die letzte grosse Idee endlich, die der Reichskanzler ins 
deutsche Volk warf, gewissermassen sein Vermächtnis an das 
Reich, war die Kolonialpolitik. Auf das Mutterland beschränkt,. 


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liann das Deutsche Reich wohl in Europa eine friedengehie- 
lende Herrscherstellung einnehmen, aber nicht auf die Dauer 
in der Welt, wie England, Russland, wie selbst Frankreich. 
Dazu gehören grosse Besitzungen jenseit der Ozeane und eine 
dementsprechende Marine. Die deutsche Auswanderung ferner, 
die zweitstärkste der Welt, ging bisher für das Mutterland und 
das Deutschtum so gut wie ganz verloren. Und sollte einmal, was 
Gott verhüten möge, in ferner Zeit, durch eine grosse Kata- 
strophe der Weltgeschichte das Deutsche Reich wirklich zerstört 
werden, das deutsche Volk das Schicksal Polens erleiden, so 
wäre es überhaupt mit dem Deutschtum ein- für allemal aus, 
während, wenn z. B. England jetzt von den Wogen der See 
verschlungen würde, das englische Volk, das englische Wesen, 
die englische Sprache fortdauern und fortblühen würden in 
Amerika , in Australien , in Südafrika. Darin liegt die welt- 
historische Bedeutung der Kolonieen , und so hat der grosse 
Kanzler versucht , dem Deutschtume für jetzt eine wahrhafte 
Weltstellung und für ferne Zukunft vielleicht eine neue Heimat 
jenseit der Weltmeere zu schaffen. In aller Stille hatte er 
auch hier alles vorbereitet, jahrelang mit hanseatischen Gross- 
kaufleuten und hervorragenden Weltreisenden beraten. Vor 11 
Jahren wohnte ich in einem Gasthofe in Berlin, in dem er kurz 
vorher monatelang fast täglich mit Gerhard Eohlfs heimlich 
zusammengekommen war, um die Karte Afrikas zu studieren. 
Denn Afrika und Australien hatte er vor allem ins Auge ge- 
fasst. Und plötzlich warf er die Kolonialfrage ins deutsche 
Volk , in die Welt ! In kurzer Zeit stand er in der Kongo- 
konferenz an der Spitze der gesamten europäischen Kolonial- 
politik und leitete die dort beschlossene Aufteilung Afrikas* 
Einem grossen Erfolge ganz nahe, stürzte er ! Noch immer ist 
der erhaltene Rest unserer Kolonieen fünfmal so gross als Deutsch- 
land und kann einst vielen Millionen Deutscher eine neue Hei- 
mat gewähren. Die Sorge für die Marine aber hat unser junger 
Kaiser mit voller Begeisterung und ganzer Kraft übernommen. 


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Fassen wir noch einmal alles zusammen: die Durchführung^ 
der preussischen Heeresreorganisation; der schleswig-holstei- 
nische, der österreichische, der französische Krieg; das neun 
deutsche Kaiserreich mit seiner einzigartigen Heeresmacht und 
einheitlichen (Gesetzgebung; der Versuch konfessioneller Annä- 
herung; der Auf- und Umschwung der Wirtschaftspolitik; die 
soziale Gesetzgebung; die Kolonieen — das sind die grossen 
Thaten eines einzigen Mannes, die er zwar nicht allein, aber 
doch vor allen ins Werk gesetzt hat. Und wo er gescheitert 
ist, wo sein Werk durch den Willen der Vorsehung oder die 
Aengstlichkeit der Parlamentarier , auch die begrenzte Opfer- 
willigkeit des deutschen Volkes, verkümmert worden ist, da hat 
er uns doch die hohen Ziele gewiesen, da hat er uns Aufgaben 
für Jahrhunderte gestellt , da hat er uns , so Gott will , den 
Trieb und die Kraft eingeflösst, mit denen wir einst, wenn auch 
nicht so rasch , wie sein patriotischer F euergeist es wünschte 
und hoffte, und vielleicht vielfach auf anderen Wegen, einst 
doch jene von ihm geahnte und ersehnte Weltstellung erreichen 
werden. 

Noch lebt er, noch können wir den Spruch vom Undank der 
Mitw^elt zu Schanden machen, und luir an unserem Teile thun 
dies hier am heutigen Tage. Wir aber sind hier auch vor allen 
dazu verpflichtet, auf dem Boden des altdeutschen, durch ihn 
für das grosse Vaterland wiedergewonnenen Reichslandes, in 
einem Centrum der Weltindustrie, dem sein letztes Werk noch 
neue Bahnen eröffnen wollte. Und so erheben ivir uns und 
bringen ihm unsere Verehrung und unsern Dank dar als der 
grössten lebenden Verkörperung deutschen Geistes und deutscher 
Vaterlandsliebe, als dem gewaltigen Schöpfer und Förderer des 
einigen Deutschen Reiches , als dem grossen Menschen und 
Manne ! 

Er lebe hoch, hoch, hoch! 



tu 


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K 

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